Ich habe vor einiger Zeit in einer Diskussion behauptet die Insel El Hierro sei ein Geheimtipp und werde total unterschätzt und sei deshalb nicht so gut besucht wie andere der Inselgruppe. Daraufhin erhielt ich zum Teil berechtigte Kritik von Diskutanten. In diesen kritischen Entgegnungen hieß es unter anderem, El Hierro sei leider schon längst kein Geheimtipp mehr und von einer Unterschätzung könne keine Rede sein. Jeden Sommer werde das Eiland von Touristenmassen überrollt, die nicht mehr bewältigbar wären.
Ich kann die Situation im Sommer nicht beurteilen und mir auch vorstellen, dass eine andauernde Touristenschwemme, trotz des sehr erfreulichen Geldsegens für die kleine Insel und deren Einwohner nur schwer verkraftbar wäre. Als ich dort ankam, war es allerdings sehr still, beschaulich und weihnachtlich im Hauptort Valverde im Südosten der Insel. Im Zentrum des Örtchens leuchtete als Attraktion ein mannshoher Weihnachtsstern vor dem sich die wenigen Touristen ein Erinnerungsfoto holten. Ich muss schon sagen, die Weihnachtsdekoration gepaart mit den sommerlichen Temperaturen wirkte auf mich schon ein wenig befremdlich und dennoch spürte ich den Geist des bevorstehenden Weihnachtsfestes. Aus Lautsprechern klang besinnliche Musik, es hatten nur wenige Lokale geöffnet und durch den frühen Sonnenuntergang war der Ort ab den frühen Abendstunden beinahe wie ausgestorben. Eine tolle Abendstimmung mit aufgehenden Beinahe-Vollmond über dem Meer, im Hintergrund Gomera und Teneriffa, rundete meine Stimmung ab und machte den Tagesabschluss perfekt.
Auch hier, an diesem Ort, überkam mich, ähnlich wie in San Sebastian de La Gomera, ein tiefes Gefühl von Ruhe, Frieden, Freiheit und auch ein Hauch von Wehmut.
Am nächsten Tag startete ich bei strahlendem Wetter von Valverde zum, wie könnte es anders sein, höchsten Punkt der Insel, dem Pico de Malpaso mit seinen 1501 Metern. Je mehr ich ins Landesinnere kam, umso mehr veränderte sich auch das Wetter. Wolken zogen auf, der Wind wurde stärker und durch die zunehmende Seehöhe sanken auch die Temperaturen. Pro 100 Höhenmenter zwischen 0,6 und 1,0 Grad Celsius besagt eine einheimische Faustregel. Am Pico de Malpaso stand ich dann mitten in einer dichten Wolke und von einer guten Aussicht konnte keine Rede sein. Allerdings hatte ich zuvor genug Gelegenheiten, von den lichten Höhen, in denen ich mich befand, auf die tollen Küsten der Insel hinabzublicken. Die Nordküste ist etwas ganz Besonderes. Eine etwa 1000 Meter hohe, steile Felswand umschließt diesen Teil wie ein natürliches Amphitheater. Ein grandioser Ausblick und insgesamt eine sehr beeindruckende Landschaft. Sehr grün, und sehr vielfältig.
Nach einer kalten und feuchten Nacht, machte ich mich, um 5 Uhr früh, bei starkem Wind und nach wie vor schlechter Sicht, der Vollmond schaffte es kaum durch die Wolkendecke, auf den Weg Richtung Faro de Orchilla, einem Leuchtturm am südwestlichsten Punkt der Kanaren und somit auch Spaniens.
Mein Weg führte mich vorbei an der berühmten Kapelle Santuario Nuestra Señora de los Reyes, die absolut einsam auf unbewohnten Gebiet aufgebaut war. Vorbei an Weideplätzen und bewohnbaren, aber leerstehenden Höhlen, wie sie auf den Kanaren des öfteren zu finden sind. 1500 Höhenmeter wieder bergab bis zur Südküste, wo auf mich strahlender Sonnenschein wartete und weiter entlang der Küste am Leuchtturm (Faro de Orchilla) vorbei bis zu einer Stelle, wo Wege und Straßen an der kaum benutzten Schiffsanlegestelle Muelle de Orchilla endeten. Ein überdachtes Shelter mit Sitzgelegenheiten waren mein Platz für die Nacht. Mit einem grandiosen Sonnenuntergang, begleitet von der ständigen Meeresbrandung, endete ein weiterer wunderbarer Tag auf El Hierro.
Die Schiffsanlegestelle, oder genau genommen bereits der Leuchtturm war das offizielle Ende meines 540 Kilometer langen Wanderabenteuer. Allerdings war die Zeit noch nicht gekommen mich auszurasten. Um in einen Ort mit einer Anbindung zum öffentlichen Busnetz zu kommen kamen meine Beine nochmals ordentlich zum Einsatz. 10 Kilometer zurück, auf dem Weg den ich gekommen war, um eine nochmals mehrere Kilometer lange Abzweigung in den nächsten Ort, das Dörfchen Sabinosa zu finden. Das bedeutete nochmals 800 Höhenmeter hinauf und wieder hinunter. Ich muss zugeben, in Sabinosa war ich ordentlich erschöpft. Auch an diesem Tag machte es mir das Wetter nicht leicht. Trotz Regenbekleidung kam ich dort patschnass an. Ich spürte die nachlassende Kraft. Mein Körper wusste, die Wanderung ist zu Ende und wollte endlich rasten. Eine Haltestelle war nicht schwer zu finden und ein Bus brachte mich über Frontera wieder nach Valverde.
Aber zuvor, im Dörfchen Sabinosa, durfte ich das Leben auf der beinahe einzigen Kreuzung des Ortes, wo sich auch die Bushaltestelle befand, miterleben. Diese Kreuzung war nicht nur der Standort der Haltestelle sondern auch Mittelpunkt und Zentrum des sozialen Lebens. Die Einwohner trafen sich dort mit einem Espresso oder einem Bier, besorgt im einzigen kleinen Supermarkt. Unter eifrigen Geplauder fand hier, so hatte ich den Eindruck, um die Bushaltestelle das gesellschaftliche Leben von Sabinosa statt. Und ich mittendrin. Jeder Lenker eines vorbeifahrenden Autos, ließ lautstark die Hupe zur Begrüßung ertönen und versuchte sich an den bereits an der Kreuzung geparkten Fahrzeugen vorbeizuschlängeln. Hier war die Welt noch in Ordnung und man fühlte, dass sie sich hier etwas gemächlicher drehte als anderswo.
Ein Abschluss einer abenteuerlichen Wanderung ohne Getöse und Applaus, dafür mit einer sozialen Ursprünglichkeit, wie man sie selten findet. Diese Wanderreise, dieses Wanderabenteuer, war ein Experiment um die Frage, kann durch Reduktion die Qualität im Leben gesteigert werden? Ich möchte diese Frage vorerst offen halten, weil es bei jeder und jedem etwas anders sein wird. Vielleicht sollte man es selbst ausprobieren.